Freitagspost

Freitagspost: Mean Girls

16. Januar 2015
Ich habe vergessen, wie laut Kinder sind. Nach zwei Jahren auf der Erweiterten Realschule ist mir das Geschrei von Fünftklässlern fremd geworden. Wie soll ich diesen Lärm jetzt jeden Tag ertragen? Es ist Hochsommer und ich bin merkwürdig stolz, ein Gymnasium in der Stadt zu besuchen. Morgens laufe ich zum Bus, dann in die Bahn, bis ich an dem großen, gemäuerten Gebäude ankomme.
Hanna. 
Hanna ist genau wie ich die Neue, sie kommt aus Dresden, ich bin aus der Kleinstadt. Manchmal reden wir über Berlin. Ich liebe Berlin und sie war oft dort zum shoppen, sie kennt die Stadt gut. Wir suchen uns Plätze nebeneinander. Sie besucht mich zuhause, in dem einen Zimmer, dass ich mit meiner Schwester teile, in meinem neuen Leben. Wir schauen uns Girls Club mit Lindsay Lohan im Kino an und ich probiere zum ersten Mal Nachos mit heißer Käsesauce. Mir wird schwindlig davon, soviel Geld auf einmal auszugeben.
Ich hasse den Sportunterricht. Dafür muss jeder morgens den überfüllten Bus nehmen und an den Sportplatz fahren. Meistens drücke ich mich davor, aber an dem Tag nicht. Hanna und ich sitzen auf der Bank, wir warten bis alle da sind und der Unterricht beginnt. Sie zeigt mir ihren Arm. “Das ist ein Implantat zur Verhütung.” Ich schaudere und streiche über ihre Haut, da spürt man es ganz leicht, wie eine winzige Nadel.
Die Schule ist mir nicht so wichtig. Ich liebe Zeichnen, damals zeichnete ich jeden Tag. Der Kunstlehrer meinte etwas in mir zu sehen, jedenfalls ging ich dann in die Kunst AG, ganz oben unter dem Dach, gleich nach der Schule. Ich zeichnete langweilige Stilleben und fand nichts daran. Was ich mag, das fällt mir leicht, wie Französisch oder Englisch. Hanna ist anders. Während ich von Berlin träume, nach der Schule Kartoffeln schäle und meine eigenen 24 Quadratmeter schrubbe, baut sie Beziehungen auf. Networking nennt man das heute. Zu den Klassenbesten. Sie flirtet mit den Streberjungs, lässt sich stundenlang Matheformeln erklären, jeder möchte ihr gefallen. Sie hat ein Date mit dem einzigen Typ in unserer Stufe, der annähernd sowas wie cool ist.
Hanna trägt mittlerweile jeden Tag einen anderen Pullover, alle sind von Peek & Cloppenburg und ich weiß, die kosten mehr. Mehr als ich im Monat für mich ausgeben kann. Manchmal ist es Ralph Lauren, manchmal eine andere Marke. Schulhof, die große Pause. Lisa ist jetzt immer dabei. Ich habe ihr nichts zusagen, doch bei Hanna ist das anders, sie findet in Lisa eine Freundin. “Ich weiß schon, was meine Mutter für dich kochen wird, wenn du mich nach der Schule besuchst! Sie macht sich immer solche Mühe, wenn Freunde von mir vorbeikommen.” Da verstehe ich es zum ersten Mal. Die Mauer, die zwischen uns ist. Zwischen mir und Hanna, mir und diesem Gymnasium, vielleicht noch mehr.
Herbstferien. Ich weiß, dass ich nicht mehr zurückgehe. Ich weiß, dass ich mich nicht mehr mit dem Käsebrot, dass ich mir morgens alleine in meiner kleinen Küche vorbereitet habe, in den Pausen auf dem Klo einsperre. Ich werde nicht mehr für Physik lernen und in diesen Hörsaal gehen. Ich werde keine französische Vokabeln auswendig lernen, auch wenn ich eine Eins schreibe und ich werde nicht mehr zeichnen. Sie rufen jeden Tag an, die Lehrer, sogar Hanna ruft einmal an, heuchelt auf den Anrufbeantworter, obwohl sie seit Wochen nur über mich lästert.
Ich bin schon längst weitergegangen und es gibt kein Zurück. Es gibt keinen Weg zurück.
Hintergrund: Ich habe einen sehr persönlichen, bewegenden Sonntagspost bei Chi von If I Were Audrey gelesen, die schon mit 14 auf eigenen Beinen stand. In ihre Geschichte konnte ich mich sehr gut hineinfühlen, weil ich weiß wie es ist, wenn man plötzlich alleine da steht. Das hat mich dazu animiert, einen Auszug aus dieser Zeit zu veröffentlichen. Übrigens heißt der Film Girls Club im Original Mean Girls.  
 
 
 
 
Ach und könnt’ ich doch nur ein einz’ges Mal 
die Uhren rückwärts drehen, 
Denn wie viel von dem, 
was ich heute weiß, 
hätt’ ich lieber nie gesehn.
 – Wolfsheim
 
 

Das könnte dir auch gefallen

17 Kommentare

  • Antworten Flo 16. Januar 2015 um 20:05

    'Girls Club' gucke ich immer wieder gerne. Der Film erinnert mich an meine Schulzeit. Bei uns gab es auch so eine Regina George mit ihren Anhängern, die absolut alles für sie gemacht haben.

  • Antworten Moonstyle 16. Januar 2015 um 20:14

    love this pic!

  • Antworten Vanessa Billie-Jill-Jean 16. Januar 2015 um 23:26

    So schön. *__*
    Schönes Wochenende…

  • Antworten Lisa Lait 16. Januar 2015 um 23:35

    Liebe Andrea!

    Ein sehr interessanter Freitagspost und das Szenario, wie du es beschreibst, erinnert mich wirklich ein bisschen an den Film. Hanna ist mir auf jeden Fall sofort unsympathisch gewesen. Es ist einfach das letzte, wenn man eine Freundschaft vorgaukelt, aber hintenrum lästert.

    Liebste Grüße
    Lisa

    PS: Geplant ist noch nichts für dieses Jahr, was das Reisen angeht. Ich will das im Sommer einfach spontan machen. Und wenn es nur ein Zweitagesausflug ist, mir ist alles recht 🙂 Meine Mama möchte im Herbst nach Triest fahren. Wenn ich bis dahin nirgends hingekommen bin, werde ich sie begleiten. Ansonsten steht heuer noch eine Exkursion vom Studium an, aber die beschränkt sich eher auf Österreich. Wenn ich einen Fixplatz bekomme, dann komme ich zumindest nach Salzburg. Und nach Wien werde ich im März auch fahren, weil mich meine beste Freundin zu einem Konzert eingeladen hat. ABER trotzdem möchte ich noch ins Ausland 🙂

    Ich wünsche dir viel Spaß in Berlin und ich bin schon gespannt, ob du dann ein paar Eindrücke für uns hast 🙂 (wovon ich überzeugt bin :))

    :-*

  • Antworten Alisa Gromova 17. Januar 2015 um 01:03

    You are so beautiful!
    Happy weekend dear!

    http://www.alisagromova.com/

  • Antworten Bonny 17. Januar 2015 um 10:32

    Sehr emotionaler Text.. und sehr ehrlich, hat mich total berührt. Vor allem, weil man sich – wenn auch ganz anders – in manchen Passagen wiederfinden kann.

    Bin stark dafür, dass du mal ein Buch mit deinen besten Freitags-Posts rausbringt, im Kurzgeschichten-Stil. Ich würd´s mir kaufen 🙂

    Liebe Grüße
    Bonny

  • Antworten Salo 17. Januar 2015 um 11:15

    Was für ein toller Text, wie immer. Du schaffst es immer kein Wort zu viel oder zu wenig zu schreiben, eine Art vollkommene Erzählung.
    Alles Liebe, Salo

  • Antworten Sabrina Mohr 17. Januar 2015 um 13:12

    Wieder so ein schöner, bewegender Text – in dem ich mich ein Stück weit wieder finden kann, wenn auch irgendwie auf eine andere Weise. Auch ich habe kurze Zeit mein Glück auf einem Gym versucht, habe es nach einem Jahr – teilweise auch wegen der falschen Freunde dort, aber auch aus anderen Gründen – sein lassen. Manchmal muss man sich im Leben ausprobieren, verschiedene Wege gehen … bis man eben den richtigen Weg findet. 🙂

    GLG, Sabrina
    Bei mir kann man aktuell ein Beauty-Set von The Body Shop gewinnen! 🙂

  • Antworten Barbara 17. Januar 2015 um 15:06

    So persönlich, so schön geschrieben…

  • Antworten Johanna 17. Januar 2015 um 16:41

    Super schöner Post!
    xx

  • Antworten Chi 17. Januar 2015 um 21:44

    So schön! Ich wünschte, ich könnte schreiben wie du.

  • Antworten Saskia von P. 18. Januar 2015 um 11:06

    Sehr schön geschrieben.

  • Antworten Ninon Sardou 19. Januar 2015 um 01:04

    Liebe Andi,

    deine Freitagsposts – unprätentiös, authentisch – sind das, was dich von all den anderen Fashionbloggern abhebt und liebe es, sie zu lesen. 🙂 Nicht alle Menschen, deren Biographie sich von der Masse abhebt, reflektieren, deshalb freue ich mich umso mehr um die wenigen, die es tun.

    Abitur ist meiner Meinung nach in dieser Zeit ohnehin nur "Statussymbol". Daran sollte man niemanden beurteilen. Es sagt weder etwas über die Intelligenz noch über das Potential einer Person aus. Ich habe das Gymnasium nur als Mittel zum Zweck abgeschlossen – und weil ich an das "Außenseiterdasein" sowieso schon gewöhnt war. Dass man darauf keine besondere Lust hat, kann ich verstehen.
    Hannas habe ich mehr als eine kennengelernt. :/ Aufgeben wollte und habe ich auch oft. Einmal bin ich so weit weggelaufen, dass ich fast nicht mehr zurückgefunden habe.
    "Mean Girls" (die es, wie du sicher weißt, nicht nur in der Schule, sondern überall sonst auch gibt) waren ebenso Schuld wie "Mean Boys" oder einfach nur die Tatsache, dass man einen anderen kutlurellen Hintergrund hat, nicht glücklich zu Mama und Papa nach Hause gehen kann, sondern das "Zuhause" anders aussieht als das konventionelle Bild.
    Es tut mir leid, dass du es so schwer im Gymnasium hattest – auch wenn ich nichts Näheres über deine Biographei weißt, wage ich die Aussage, ich hätte die eine leichtere Zeit dort gewünscht. Denn wie gesagt: Es kommt nicht so sehr darauf an, ob man es akademisch oder intellektuell schafft, sondern vor allem gesellschaftlich/sozial.

    Der Text an sich hat – auch wenn literarisch noch ein paar Patzer, wie alles, was man so schreibt – Potential und zeigt von Feingefühl und Selbstreflektion und sozialer Intelligenz. Beide Daumen hoch. 😉

    Um etwas "persönlicher" zu werden (wenn du das nun auch schon wagst): Mir ging es an der Uni ähnlich wie dir, ich hätte ebenfalls aufgegeben, aber meine "Hanna" hat sich als "Nicht-Hanna" entpuppt (glücklicherweise), sondern als Freundin, die mir (genauso wie ihre Eltern) endlos oft geholfen hat, wenn ich aufgeben wollte.
    Es gibt genug Menschen, die mir immer wieder gesagt haben, dass ich dies und jenes nicht schaffen – und dann doch die wenigen, die mich vorbehaltlos unterstüzt haben.
    Ich denke, so jemanden hast du in deiner Schwester? Haltet zusammen!
    Ich habe auch eine Schwester, die mich vor unserer Stiefmutter gerettet hat, auch wenn es bedeutet hat, dass wir jahrelang getrennt waren und heute ebenfalls weit voneinander entfernt wohnen.
    Ich wünsche mir nichts mehr, als ebenso eine Beziehung zu ihr zu haben wie du und Christine (und ihr beiden gebt mir auch den Mut dazu, aktiv daran zu arbeiten. 😉 Ich bin – durch und durch im positiven Sinn – neidisch auf euch beide. ;))

    Ich war auch auf Chis Blog und war ebenfalls gerührt.

    Viele liebe Grüße

  • Antworten Juliane Ivory W. 19. Januar 2015 um 20:42

    Solche Hannas gibt es leider viel häufiger, als man denkt. Und mir kommt die Galle hoch, wenn ich an sie denke. Und als ob die nicht schon schlimm genug wären, gibts die Sorte auch noch in männlicher Form, als Erwin oderso. Furchtbar.
    Manchmal bereue ich es, damals nicht weiter gemacht zu haben. In etwa dann, wenn ich meinen Lohnzettel erhalte und der von Freunden, die studiert haben, um einiges besser aussieht, aber sonst…. eigentlich nicht :-D.

  • Antworten da ko 20. Januar 2015 um 12:06

    ein sehr nachdenklicher post … das hebt dich ab von so vielen anderen bloggern, dir nur über oberflächlichkeiten schreiben. ich habe respekt vor jedem, der schon früh komplett auf eigenen beinen steht und kann die einsamkeit in der selbstständigkeit nachvollziehen. teilweise erkenne ich mich selbst darin. ich habe lange jahre mit meiner mutter zusammengelebt, musste ihr allerdings, trotz studium, finanziell unter die arme greifen, habe die miete bezahlt, konnte mir keine neuen klamotten leisten, teilweise nicht mal die materialien für die uni. dann habe ich mich selbstständig gemacht und vollzeit gearbeitet, neben dem studium. keine leichte zeit – wirklich nicht.
    jeder, der aus seiner eigenen situation ausbricht, um in eine bessere zu kommen, verdient respekt. immer.

    liebe grüße
    dahi

  • Antworten Casey Nonsense 20. Januar 2015 um 21:05

    Toller Sonntagspost. Einfach ein richtig toller Sonntagspost. Hat mich sehr bewegt. Danke dafür!
    Ich kann jetzt gar nicht mehr dazu sagen, aber auf alle Fälle: Danke.

    Liebe Grüße,
    Casey

  • Hinterlasse einen Kommentar