Es war ein sonniger, kühler Herbsttag. Ich kämpfte mit einer Erkältung und fühlte mich schon ziemlich schlapp, wie ich da morgens in der Straßenbahn in den Vorort fuhr. Mission: Einen Tag lang eine Stromableserin begleiten für die Mitarbeiterzeitschrift des Unternehmens, in dem ich damals arbeitete. Kamera und Notizblock im Gepäck wusste ich nicht so recht was mich erwartete.
Die Ableserin war eine robuste und stämmige Frau, erzählte von ihren Kindern und Enkeln, sie kämpfte sich die Treppen fast schon müheloser hinauf als ich. Mietshäuser, Wohnhäuser, Treppen rauf und Treppen runter. Ich fühlte mich voyeuristisch, wie ich in all diese Häuser trat und diesen Menschen in ihren eigenen vier Wänden begegnete.
Fast schon am Ende der Strecke klingelten wir an einem freundlichen Ein-Familien-Haus. Eine sehr liebenswürdige Frau öffnete uns die Tür, ihr Ehemann führte uns in den Keller. Das Haus war blitzsauber, das Ehepaar wirkte wie die Großeltern, die ich nie hatte. Im Kellerraum hingen viele Bilder an der Wand. Und andere Dinge. Dinge, die ich nur aus dem Film kannte. Es waren Kriegsabzeichen. Hakenkreuze. Symbole eines der schlimmsten Verbrechen der Menschheit. Im Kellerraum des liebenswürdigsten Ehepaares unserer Strecke. Ich konnte der Frau nicht mehr in die Augen schauen.
Kurz darauf, ich habe die Ableserin wieder alleine ihrer Arbeit überlassen, setzte ich mich in ein Café im Vorort, wartete auf die Straßenbahn und fühlte mich wie betäubt. Als kleines Mädchen war ich ein Bücherwurm, verschlang die Jugendromane von Klaus Kordon und vieles mehr in dieser Art. Ich habe mich geschämt. So sehr geschämt, deutsch zu sein. Geschämt, Teil eines Volkes zu sein, dass vor weniger als hundert Jahren einen Genozid begang. Ein Volk, das ein anderes Volk systematisch auszurotten versuchte, wobei jeder Goldzahn weiter verwertet werden sollte, es sollte experimentiert und dokumentiert werden. Was sind das für Menschen und warum nur wurde ich in dieses Volk geboren? Es fiel mir sehr schwer, damit in meiner Kindheit klar zu kommen.
Mittlerweile versuche ich mich an diese Menschen zu erinnern, die Widerstand leisteten, die Mutigen und die Selbstlosen. Ich denke an Willi Graf und an Max Braun. Ich denke an Regisseure, die auch heute noch Filme drehen wie “Die Kriegerin“.
Ich weiß nun, dass wir nicht alle gleich sind und ich mich nicht schämen muss für meine Herkunft. Doch ich weiß auch, dass der Hass noch in den Herzen ist.
Und wir dürfen nie vergessen.
Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß Rechenschaft zu geben,
bleib im Dunkeln unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.
4 Kommentare
Mein Lieblingspost!!!!!!
Andrea, sehr schön geschrieben. Das Thema ist nicht einfach. Toll, dass du es aufgegriffen hast.
Wow, ein unglaublicher Text!
Ich bin gerade mal wieder zutiefst erschüttert und frage mich, was in den Köpfen einiger Menschen vorgeht…haben sie denn gar nichts aus der Geschichte gelernt?!?
Liebst
Kathi
sehr guter text, der ein wirklich zum nachdenken bringt. lg
beautyliciousd.blogspot.de